Kenosis (altgriechisch κένωσις kénōsis „Leerwerden“, „Entäußerung“), auch Kenose, ist das Substantiv zu dem von Paulus im Brief an die Philipper gebrauchten Verb altgriechisch ἐκένωσεν ekénōsen „er entäußerte sich“ (Phil. 2, 7). Über Jesus Christus ausgesagt, bedeutet der Begriff den Verzicht auf göttliche Attribute bei der Menschwerdung. Darüber hinaus kann er das „Leerwerden“ des einzelnen Gläubigen für den Empfang der göttlichen Gnade bezeichnen. Der jüdische Philosoph Hans Jonas bezog die Kenosis-Vorstellung auf die „Selbstentäußerung des Schöpfergeistes im Anfang der Dinge“.
Herkunft
Der Bezugstext, dem das Substantiv Kenosis entlehnt ist, findet sich im Philipperbrief. Paulus zitiert in Phil 2,5–11 wahrscheinlich einen ihm schon vorliegenden Hymnus (hier nach der revidierten Luther-Übersetzung von 2017):
Der Hymnus steht im Zusammenhang eines Werbens um Einheit in der Gemeinde: „Dazu achte in Demut einer den anderen höher als sich selbst, und ein jeder sehe nicht oft das Seine, sondern auch auf das, was dem anderen dient“ (Phil 2,3-4 ). Für Christus, aber auch für die, die ihm in seiner Kenosis nachfolgen, ist die Selbsterniedrigung in Demut nicht ein Ziel in sich, sondern hat ihr Ziel in der Verherrlichung des Vaters, weil Christus nicht nach der Weise irdischer Herrscher die Herrschaft erlangt, sondern durch Demut und Liebe, auf „dass Jesus Christus der Herr ist, zu Ehre Gottes des Vaters“ (Phil 2,11bc ).
Auch wenn in der Theologie seit ältester Zeit zumeist die hier beschriebene Kenosis als „Selbstentäußerung des präexistenten“ Christus gedeutet wird, kann der Hymnus auch verstanden werden als ein Lobpreis des menschengewordenen Gottessohnes, der sich als Mensch seiner von seinem Vater gegebenen Möglichkeiten entleert.
Katholische Theologie und Spiritualität
In der katholischen und orthodoxen Theologie ist die Kenosis, einerseits ein grundlegender Bestandteil der Christologie. Sie erklärt, wie Gott, der allmächtig und unendlich ist, sich auf eine Weise dem Menschen annähern konnte, die eine echte Beziehung ermöglichte. Die Kenosis betont die Einheit von göttlicher und menschlicher Natur in Christus. Sie ist Ausdruck der Liebe Gottes zur Menschheit und seiner Bereitschaft, sich der Sterblichkeit zu unterwerfen.
Andererseits wurde eine von der katholischen Sichtweise abweichende Lesart der Kenosis, wie sie unter anderem in protestantischen Kreisen entwickelt wurde (siehe unten), verworfen. Noch 1951 lehnte Papst Pius XII. in seiner Enzyklika Sempiternus rex Christus die „Lehre von der sogenannten Kenose“ rundweg als nicht-chalcedonisch ab:
Hans Urs von Balthasar
Hans Urs von Balthasar hat in seiner Theodramatik wie kein anderer die Kenosis zum Mittelpunkt seiner Theologie gemacht. Gegenüber einer augustinischen Trinitätstheologie betont er, dass "die Grundbewegung, die im dreifaltigen Gott anzunehmen ist, (...) Hingabe, ja Entäußerung heißt, nicht aber Ansichhalten 'und Selbstbehauptung ist." Der schweizerische Theologe hat dabei Anregungen von russisch-orthodoxen Theologen des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts, insbesondere Sergej Bulgakow aufgegriffen. Baltasar hat die kenotische Entäußerungsbewegung bis an die Grenzen des Denkbaren verfolgt: In einer Theologie des Karsamstags, da Gott tot ist, da der Logos verstummt zum Wort, das kein Wort mehr ist, wendet sich Balthasar von dem in der Tradition breit vertretenen Triumphalismus ab. Der tote Gottessohn lässt sich im Gehorsam in den Abstieg zur Unterwelt (descensus ad inferos) verfügen, er hinterlegt seine Gottheit in die Hände des Vaters, um denen nahe zu sein, die keine Nähe mehr kennen.
Spiritualität
Die Lehre von der Kenosis ermutigt dazu, sich selbst aufzuopfern und den Nächsten zu dienen. Sie zeigt, dass Gott nicht fern und unnahbar ist, sondern den Menschen in Christus ganz nahegekommen ist.
Das Apostolische Schreiben "Dies Domini" (1998) von Papst Johannes Paul II. nimmt Bezug auf die Kenosis-Lehre, insbesondere im Zusammenhang mit der Eucharistie. Diese wird vom Papst als lebendige Vergegenwärtigung des Opfers von Golgota beschrieben, bei dem Christus sich in einer Haltung der Kenosis dem Vater darbringt. Diese Selbsthingabe Christi wird in der Eucharistie gefeiert und erinnert, was die Gläubigen dazu aufruft, sich ebenfalls in einer Haltung der Demut und Hingabe zu üben und die gleiche Haltung der Selbsthingabe und Demut anzunehmen, die Christus vorgelebt hat.
Protestantismus
Die Frage, wie das Verhältnis der göttlichen und menschlichen Natur Jesu zueinander zu denken sei, wurde vor allem in der protestantischen Theologie des 16. und dann des 19. Jahrhunderts diskutiert und unterschiedlich beantwortet, ist aber bis heute aktuell.
16. und 17. Jahrhundert
- Martin Chemnitz (1522–1586) vertrat die Auffassung, dass Jesus Christus bei der Menschwerdung großenteils auf seine göttlichen Eigenschaften verzichtet habe. Diese kenotische Christologie wurde dann vor allem an der Universität Gießen vertreten.
- Dagegen stand eine Christologie, die auf Johannes Brenz (1499–1570) fußend vor allem an der Universität Tübingen vertreten wurde, nämlich „daß Jesus Christus nicht nur […] im Besitz der göttlichen Eigenschaften […] sei, sondern daß er sie tatsächlich auch […] gebraucht habe“.
- Daraus entstand zwischen beiden Fakultäten der Kenosis-Krypsis-Streit, der in der Decisio Saxonica 1624 entschieden wurde.
19. Jahrhundert
Im 19. Jahrhundert bildete sich eine eigene Schule von Kenotikern:
- Gottfried Thomasius unterschied die „weltbezogenen“ Wesenszüge Gottes, nämlich Allmacht, Allgegenwart, Allwissenheit, von den „immanenten“ Wesenszügen Macht, Wahrheit, Heiligkeit, Liebe; letztere habe auch Jesus nicht ablegen können.
- Wolfgang Friedrich Geß (oder Gess) vertrat darüber hinaus die Ansicht, dass Jesus auch diese immanenten Eigenschaften nicht besessen, ja nicht einmal das Bewusstsein gehabt habe, von jeher Gott zu sein. „Man muß bei Geß fragen, ob von einer Gegenwart Gottes in dem Menschen Jesus überhaupt noch etwas bleibt.“ (Paul Althaus)
20. Jahrhundert
Sehr nachdrücklich bekannte sich Dietrich Bonhoeffer zur Kenosis (wenngleich er den Begriff selbst nicht verwendete). So beschrieb er 1937 Jesu Menschwerdung in seiem Buch Nachfolge:
Bonhoeffer bezeichnet es als das Wunder aller Wunder, dass Jesus, der „von Ewigkeit her bei dem Vater war und die Gottesgestalt trug“, auf die Erde kam und ,„menschliches Wesen, menschliche Natur, sündliches Fleisch und menschliche Gestalt“ annahm. Hinsichtlich des sündlichen Fleisches (Röm. 8,3) präzisiert Bonhoeffer: „Es ist das sündliche Fleisch, das er trägt – doch ohne Sünde [zu begehen].“ Er konnte nur darum Sünde vergeben, weil er unser sündiges Fleisch in seinem Leibe angenommen hatte. Darum ist der Leib Jesu Christi, so Bonhoeffer, der Grund unseres Heils.
21. Jahrhundert
Der evangelische Theologe Klaus Berger greift im 21. Jahrhundert die Diskussionen auf und spricht von einer doppelten Kenosis:
Jüdisch inspirierte Philosophie
Der Philosoph Hans Jonas knüpfte im 20. Jahrhundert an die im 16. Jahrhundert in der jüdischen Mystik entstandene Vorstellung vom Tzimtzum an. Hierzu führt er aus:
Kenosis in Kunst und Literatur
Botho Strauß gebraucht in Lichter des Toren. Der Idiot und seine Zeit (2013) des Öfteren „Kenosis“, ebenso die Container-Metapher.
Literatur
- A. J. Maas: Kenosis, in: The Catholic Encyclopedia, Bd. 8. New York 1910 (Digitalisat).
- Pius XII.: Sempiternus rex Christus, Vatikan 1951 (engl. Übersetzung).
- Paul Althaus: Kenosis. In: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). 3. Auflage. Band 3, Mohr-Siebeck, Tübingen 1959, Sp. 1243ff..
- Martin Seils: Kenose. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4. Schwabe Verlag, Basel 1976, Sp. 813–815.
- Georg Pfleiderer: Kenosis, Kenose. In: Walter Kasper (Hrsg.): Lexikon für Theologie und Kirche. 3. Auflage. Band 5. Herder, Freiburg im Breisgau 1996, Sp. 1395–1396.
- Gianni Vattimo: Glauben – Philosophieren. Reclam, Stuttgart 1997.
- Onno Zijlstra (Hrsg.): Letting go. Rethinking Kenosis. Bern 2002, ISBN 3-906769-24-0.
- Klaus Berger: Ist Gott Person? Ein Weg zum Verstehen des christlichen Gottesbildes. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2004, ISBN 3-579-06402-9.
- Christian Reidenbach: Artikel Entäußerung, in: Stephan Günzel (Hrsg.): Lexikon der Raumphilosophie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2012, ISBN 978-3-534-21931-5, S. 96.
- Hans Jonas: Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme (1984). 14. Auflage, Suhrkamp, Frankfurt/M. 2013 (1987), ISBN 978-3-518-38016-1.
- David R. Law: Der erniedrigte Christus. Die lutherische und anglikanische Kenotik im Vergleich. In: ZThK 111,2 (Juni 2014), S. 179–202.
- Peter Godzik: Gott geht mit und entäußert sich. In: ders.: Erwachsener Glaube. Lebenseinsichten. Steimann, Rosengarten bei Hamburg 2018, ISBN 978-3-927043-70-1, S. 7–14.
- Botho Strauß: Lichter des Toren. Der Idiot und seine Zeit. dtv, München (Neuauflage) 2023, ISBN 978-3-423-14862-7.
Weblinks
- Peter Godzik: Dem Geheimnis auf der Spur: Von der Selbstpreisgabe Gottes, seinem Rückzug und seiner Hingabe (PDF; 2,88 MB), 2015.
- Historisches Wörterbuch der Philosophie online: Kenose (1976)
Einzelnachweise




